26.02.2023

Russlands Angriff auf die Ukraine dauert an. Als wir vor einem Jahr nach Worten für Stellungnahmen suchten, konnten wir uns noch nicht vorstellen, mit welchem Ausmaß an Gewalt und Zerstörung wir konfrontiert werden würden. Jeden Tag sterben auf ukrainischem Territorium unschuldige Menschen, Kinder werden verschleppt, in Umerziehungslager gesteckt oder zur Adoption gegeben, Städte, Landschaften, Infrastruktur und ukrainische Kulturstätten werden gezielt zerstört, auch im Namen der russischen Sprache.

Für die annektierten und okkupierten Gebiete der Ukraine bedeutet der Geltungsanspruch der Russischen Welt und ein verlogener russischer Besatzungsfrieden vor allem Russifizierung: russische Sprache auf den Beschilderungen, in den Schulbüchern, russische Schulprogramme, russisch‐ patriotische Umerziehung, Mobilisierung junger Männer für die Verteidigung Russlands. Die Delegiti‐ mation und das Ziel der Vernichtung der ukrainischen Sprache und Kultur sind keine Erfindung des Westens, sie wurden von Putin und seinen Handlangern deutlich formuliert und sind zentrales Element der Kriegsrhetorik. Dieser Krieg diskreditiert die russische Sprache unermesslich, jeden weiteren Tag des Krieges und vermutlich auf sehr lange Zeit. Russisch ist heute zuerst die Sprache des Aggressors, der Kriegsverbrechen, der Propaganda, die die Geschichte verdreht. Die „große“ russische Kultur wird degradiert zu einem Mäntelchen, das den Schauplätzen von Kriegsverbrechen umgehängt wird wie am Theater von Mariupol.

Der Stadtrat von Mariupol veröffentlichte am 12.12.2022 Fotos vom zerbombten Theater der Stadt, das von den russischen Okkupanten mit Bannern mit Abbildungen von Puschkin, Tolstoj und Gogol abgeschirmt wurde. Der Schriftzug ДЕТИ auf dem Pflaster wurde getilgt. https://t.me/mariupolrada/12049

Dies hat nicht nur zur Folge, dass viele Menschen in der Ukraine sich entscheiden, nicht mehr Russisch zu sprechen. Wir können die Augen nicht davor verschließen, dass die Idee des Sprachenlernens als Grundlage für friedliche Verständigung im deutsch‐russischen Verhältnis ebenso gescheitert ist wie die Vorstellung von Wandel durch Handel, die in einer fatalen Gasabhängigkeit endete.

Es ist eine Frage der Verantwortung jedes Einzelnen, eine Frage unserer professionellen Haltung als Experten für das Russischlernen und als Pädagogen, uns damit auseinanderzusetzen: Wir müssen darüber nachdenken, welchen Platz der Russischunterricht im schulischen Sprachenlernen im Sinne der Idee europäischer Mehrsprachigkeit künftig haben soll und wie ein solcher Russischunterricht gestaltet werden kann. Dieses Jahr hat gezeigt, was wir lange nicht gesehen haben, vielleicht nicht sehen wollten und jedenfalls nicht ausreichend angesprochen haben: dass die russische Sprache ein Machtinstrument ist und als solches immer Teil der Außenpolitik des russländischen Staates war. Unsere Sicht auf die russische Sprache als eine lingua franca im postsowjetischen Raum war weitgehend naiv und einseitig, sie blendete aus, dass in der Geschichte des russischen und des sowjetischen Imperiums für viele Menschen der Wechsel zur russischen Sprache nicht freiwillig und mit kultureller Unterdrückung verbunden war.

Dennoch hat das letzte Jahr eben auch gezeigt, wie wichtig Sprachen für die Verständigung der Menschen untereinander sind. Viele Lehrkräfte haben sofort geholfen, haben sich engagiert, haben jemanden aufgenommen, standen als Dolmetscher und Übersetzer zur Verfügung. In der Hilfe für die Geflüchteten wurden alle gebraucht, die Russisch und Ukrainisch konnten. Viele Mitglieder unseres Verbandes wurden unmittelbar aktiv, als es darum ging, ukrainische Kinder und Jugendliche in den Schulen zu unterstützen. Sie haben sie auch in den Russischunterricht integriert. Sie haben sich Gedanken gemacht, wie sie mit Fragen nach dem Krieg und mit den Ängsten und Sorgen aller Schülerinnen und Schüler umgehen. Unser Verein hat Gesprächsformate organisiert und Möglich‐ keiten zum Austausch für Lehrkräfte angeregt. Das ist auch weiterhin notwendig, denn viele Fragen sind offen, die wir nur gemeinsam beantworten können. Eine wichtige Erkenntnis des letzten Jahres ist auch, dass wir die Antworten nicht in den Routinen der letzten Jahrzehnte finden, wie Bundes‐ präsident Frank Walter Steinmeier bei der zentralen Gedenkveranstaltung am 24.2.23 formulierte. Die gängigen „Argumente“ für das Russischlernen haben ausgedient. Dabei ist eines klar: Wer über die Zukunft des Russischlernens in deutschen Schulen nachdenkt, der muss sich gegen das Regime in Russland positionieren, denn es richtet sich auch gegen die Interessen der eigenen Bevölkerung, es beschädigt die russische Sprache und Kultur, es ist antirussisch. In dieser Frage ist keine Neutralität möglich. Und es reicht auch nicht aus, für den Frieden zu sein: Мы за мир steht in diesen Tagen auf Transparenten bei sehr unterschiedlichen Kundgebungen. Was kann das für ein Frieden sein: русский мир? Frieden und demokratische Zukunft für Europa können nur erreicht werden, wenn keine russischen Truppen mehr auf ukrainischem Territorium stehen, wenn klar ist, dass es keinen Geltungs‐ anspruch des русский мир, der russischen welt, überall dort gibt, wo Russisch gesprochen wird. Der 24.2.2023 war ein Tag, an dem sich die deutsche Politik nachdrücklich dazu bekannt hat, weiter an der Seite der Ukraine zu stehen: Ми з УкраїноюDer Bundespräsident sagte „Німеччина – надійний партнер“.

Es ist auch zu einfach zu sagen, die russische Sprache gehöre ja nicht Putin allein. Man muss auch deutlich sagen, wem sie denn noch gehört. Es ist unsere Aufgabe, den russischen Stimmen Gehör zu schenken und sie zu Wort kommen zu lassen, die sich heute gegen den Krieg aussprechen, denjenigen, die in Russland mehr oder weniger offen ihre Haltung gegen das Putinregime zeigen, denen, die Russland verlassen mussten und nun von Deutschland und anderen Ländern aus für eine demo‐ kratische Zukunft Russlands eintreten. Die russische Sprache gehört ebenso vielen Menschen in Deutschland, die nichts mit dem russischen Staat zu tun haben, sie ist ein Teil unserer mehrsprachigen Gesellschaft. Auch für eine in ferner Zukunft wieder beginnende Zusammenarbeit mit Russland brauchen wir junge Menschen, die die russische Sprache lernen. Aber dies wird erst möglich sein, wenn auch Fragen der Verantwortung für die Kriegsverbrechen, der Aufarbeitung und der demokratischen Perspektiven in der Zivilgesellschaft angesprochen werden.

Russischunterricht in Deutschland kann in Zukunft nur mit einer Perspektive auf europäische Sprachen‐ vielfalt gestaltet werden. Nach den Grundsätzen europäischer Sprachenpolitik sollte im schulischen Sprachenlernen den Sprachen unserer östlichen Nachbarn insgesamt mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden. Darüber hinaus ist Russisch Teil der Mehrsprachigkeit in unserer Gesellschaft. In diesem Sinne können wir der Idee und dem Namen unseres Vereins gerecht werden.

Im Namen des Vorstands.

Anka Bergmann
1.Vorsitzende Russisch und Mehrsprachigkeit e.V.